Merz: Außenpolitik so wichtig wie noch nie
Auf diese Frage ist Martin Giese, Sprecher von Bundesaußenminister Johann Wadephul (CDU), bestens vorbereitet: Wann hat zuletzt ein Kanzler das jährliche Routinetreffen aller 230 deutschen Botschafter aus der ganzen Welt in Berlin eröffnet? Das eigentlich ein Routinetermin ist, aber das der Bundeskanzler persönlich gerade mit einer längeren Rede aufwertet? Also, wann gab es das letzte Botschaftertreffen mit Kanzler-Beteiligung? Giese sagt: „Das reicht sehr weit in die Vergangenheit. Ich habe mich mit meinen Kollegen beraten und wir mussten sehr weit in die Vergangenheit schauen. Das einzige Mal, dass ein Bundeskanzler diese Konferenz eröffnet hat, war im Jahr 2000 durch den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder.“
Und jetzt also Friedrich Merz. 25 Jahre danach. Seitdem, kann man sagen, hat sich die Welt dramatisch verändert. Tatsächlich hielt der Bundeskanzler am Montag, zu Beginn der mehrtägigen Konferenz im Berliner Auswärtigen Amt, fast schon eine Grundsatzrede zur künftigen Bedeutung der deutschen Außenpolitik. Zusätzlich traf er sich noch mit den versammelten Botschafterinnen und Botschafter zu einem Hintergrundgespräch, auch das eher unüblich.
Merz: „Ein neuer Systemkonflikt“
In seiner Rede entwarf Merz ein Bild einer Weltordnung, in der sich beinah täglich ehemals feste Grundüberzeugungen ändern: „Das, was wir liberale Weltordnung genannt haben, steht nun von vielen Seiten unter Druck, auch im Inneren des politischen Westens. Ein neuer Systemkonflikt ist bereits aufgebrochen zwischen liberalen Demokratien und einer Achse der Autokratien, die den offenen Systemwettbewerb zu unserer Demokratie geradezu sucht.“ Die Achse der Autokraten, das sind vor allem China und Russland, darf man Merz interpretieren. Lange genug habe sich Deutschland in der trügerischen Sicherheit wohl gefühlt, dass alle globalen Verwerfungen das Land selbst nicht wirklich treffen könnten. Das habe zu einer Haltung geführt, „dass man sich nicht um die Kriege da draußen, die Aggressoren, diejenigen, die die Regeln brechen, kümmern müsste. Sie bedient ein geradezu isolationistisches Bedürfnis in unserer Bevölkerung. Aber Deutschland ist keine Insel, auch wenn wir und unser Land von Freunden umgeben sind, wie wir es so schön sagen.“

Außenpolitik als Interessenpolitik
Für Bundeskanzler Merz heißt das: Außenpolitik ist nicht mehr wie lange Jahre in Deutschland das Steckenpferd einiger Fachpolitiker. Sondern Grundlage für alle Politikbereiche, vor allem für die Wirtschaftspolitik. Und sie ist vor allem Interessenpolitik: Deutschland nimmt auf der internationalen Bühne Positionen ein, die vor allem den Absatzmärkten der exportorientierten deutschen Wirtschaft zugutekommen. Deutschland muss präsenter sein, eine starke Rolle einnehmen, so Merz: „Es ist eine Verantwortung, die uns als wirtschaftlich stärkstes Land auf diesem Kontinent nicht nur zukommt oder gar zufällt, die wir nicht aus Hybris oder Überheblichkeit übernehmen, sondern eine Verantwortung, die uns aus der geostrategischen Lage unseres Landes zukommt und die wir wahrnehmen müssen, im eigenen Interesse, aber auch im Interesse unserer europäischen Nachbarn und der gesamten Europäischen Union.“
SPD unterstützt den Kurs des Kanzlers
„Außenkanzler“ haben nicht wenige Beobachter den neuen Kanzler seit seinem Amtsantritt genannt: Merz war tatsächlich auf so gut wie allen internationalen Bühnen zu finden, bei US-Präsident Donald Trump in Washington, bei zahlreichen Treffen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, beim Gipfel der NATO-Staaten. Und die gleichen Beobachter warfen ihm vor, die Innenpolitik zu vernachlässigen. Aber beim Koalitionspartner von den Sozialdemokraten kommt der Außen-Schwerpunkt des neuen Regierungschefs gut an. Adis Ahmetovic ist außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und sagt der DW: „Es gibt nicht zu wenige Konflikte auf dieser Welt und deshalb ist es gut, wenn man als Parlament den direkten Draht auch zum Bundeskanzler hat, um gemeinsam die Linien zu skizzieren – Regierung und Parlament. Und das funktioniert aktuell in der Regierung, muss ich sagen, sehr gut.“

Ischinger: „Deutschland wird oft fehlender der Mut vorgeworfen“
Und was bedeutet der neue Ansatz jetzt für die rund 230 Botschafterinnen und Botschafter des Landes? Wie wird das Deutschland wahrgenommen, das sich stärker einmischt, präsenter ist, keine Insel mehr ist, wie Merz sagt? Wolfgang Ischinger war Botschafter in den USA und in Großbritannien und lange Jahre Chef der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC). Er sagt der DW: „Es mag sein, dass sich Deutschland selbst oft als krisengeschüttelt wahrnimmt. Dieses Bild stimmt jedoch nicht zwangsläufig mit der Wahrnehmung Deutschlands in der Welt überein. Aus der Sicht der Außenwelt sind wir ein überaus stabiles und wohlhabendes Land. Was allerdings im Ausland zunehmend negativ auffällt, ist der fehlende Mut und die fehlende Innovationsbereitschaft in Deutschland. Hier wird an unserer Reputation gekratzt, und daran sind wir selbst schuld.“

Und wenn jetzt der Fokus der deutschen Außenpolitik weniger auf der Verteidigung von Menschenrechten liege wie bei der früheren Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen, sondern auf der eher nüchternen Interessensvertretung als Wirtschaftsnation, dann sei auch das nicht wirklich etwas Neues für die deutschen Diplomaten in der ganzen Welt. Ischinger: „Die Arbeit der deutschen Auslandsvertretungen verändert sich nicht sehr. Diplomatie war, ist und bleibt wertegebundene Werbung für unsere nationalen Interessen. Auch wenn sich der Kontext verändert, bleibt der Kern der diplomatischen Arbeit derselbe.“ Auch wenn vielleicht der neue Bundeskanzler etwas häufiger anruft als der alte.